Ich habe mit der fragilen Verwundbarkeit des Themas New York, seine und meine Fotos ausgesucht, immer bedacht auch nicht in Clichés abzurutschen. Das New York, das er sah, war nicht der hippe, glamouröse Ort, wie er in Zeitschriften oder in den Hollywood-Filmen dargestellt wurde und wird. New York war das Leben von anonymen Menschen, die jetzt hier ein Gesicht und eine Geschichte bekommen. Mein Großvater fühlte, dass er einen seelenvollen Blick auf die Stadt hatte, kritisch, aber auch mit Respekt. Viele kleine Details versuche ich ebenfalls in meiner Fotoauswahl beizusteuern, einige Male stelle ich damals und heute nebeneinander, eine einmalige Möglichkeit, Fotos in einem Abstand von mehr als 80 Jahren nochmals aus gleicher Perspektive aufzunehmen und zu betrachten. Manches erkennt man wieder, einiges existiert nicht mehr und war nur sehr schwer mit New Yorker „location scouts“ zu finden. Kurze Erklärungen zum Zeitgeschehen und im Kontext der Zeit sollen das Buch mit Informationen bereichern und auch den Blick ein wenig verändern. Die Recherche zu historischen Fakten haben mir ungeheuer viel Spaß gemacht. Einige Dokumente habe ich erst im 21. Jahrhundert unter vielen Erbstücken gefunden. Seit meiner ersten Reise 1988 nach New York fasziniert mich diese Stadt, wie Millionen anderer Menschen auch. Letzte Schriftstücke wie die „Application for Visa“ entdeckte ich erst Ende 2016.
Meine Beziehung zu New York ist eine sehr persönliche, da ich als Musikproduzent mit vielen New Yorker Künstlern zu tun habe. Deshalb ist nicht nur das Visuelle ein wichtiger Bestandteil des Buches.
Ich bin mit vielen New Yorkern im Austausch, arbeite seit mehr als zehn Jahren mit den verschiedensten Interpreten zusammen. Die beiliegende CD ist ein Ausdruck des Schmelztiegels New York. Gezielt habe ich einige Musiktitel ausgewählt, die bereits in den 20er Jahren entstanden sind, neu interpretiert, zeitlos und faszinierend. Ich konnte die auch in Europa bekannten New Yorker Musiker von Hazmat Modine dazu gewinnen, Songs beizusteuern oder etwa die großartige Entertainerin Rachelle Garniez dafür begeistern, zwei Hits der Jahre 1928/1929, als mein Großvater in der Stadt lebte, neu zu interpretieren.
Die Musik der CD zeugt von der Vielfältigkeit der Stadt.
Dazu gibt es eine Reihe von Originaldokumenten, die das Buch bereichern. Ich bin froh, dass mein Großvater als Buchbinder sowohl die Briefe als Buch gebunden, ein eigenes Fotoalbum angelegt hat und viele Dokumente sammelte und aufbewahrte. Er rettete sie durch die Wirren des zweiten Weltkriegs, übergab sie später seiner Tochter Gretel, damals neun Jahre alt, und letztendlich erbte ich sie als sein Enkel. Er verdiente sich Geld als Fotograf, verkaufte Hunderte von Bildern in Amerika, an die Leipziger Volkszeitung und die Arbeiterzeitung. Er nahm Aufträge von Emigranten an und vererbte seiner Familie Fotos, die das Buch erst ermöglichten.
New York ist ein New York von uns allen. Interessiert entweder als Tourist, als Künstler oder auch als Voyeur. Deshalb unterscheidet sich dieses Buch maßgeblich von allen anderen New York Büchern, fügt Facetten hinzu und kombiniert Dinge, die es so bisher nicht zusammen gegeben hat.
Deshalb ist New York Past & Present etwas sehr Persönliches und doch ein Buch für jedermann, ein Dokument und ein Zeugnis vom Leben im 20. und 21. Jahrhundert.
Bremen, Frühjahr 2018 Ulrich Balß